Demografielüge

Endlich einmal notwendige Klarstellungen zur gesetzlichen Rente im nachfolgend leicht gekürzten Interview, die eindeutig belegen, dass es möglich ist, mit der Rente den im Erwerbsleben erreichten Lebensstandard annähernd beizubehalten, wenn es gewollt wäre.  Dazu gehörte auch, den sozialen Ausgleich zu verbessern, etwa mit der Wiedereinführung der Rente nach Mindesteinkommen.

Von der Leyens Modell helfe nicht als Mittel gegen Altersarmut, sagt Sozialforscher Christoph Butterwegge gegenüber tagesschau.de: „Das ist reine Augenwischerei.“ Nur eine ganz kleine Gruppe Menschen würde damit überhaupt erreicht werden. Und mit Demografie habe das Rentenproblem schon gar nichts zu tun.

tagesschau.de: Ist die Aufregung beim Thema Rente berechtigt?

Christoph Butterwegge: Auf jeden Fall. Frau von der Leyen hat alarmierende Zahlen veröffentlicht, die in der Tendenz stimmen. Allerdings müsste ihr das Problem schon lange bekannt sein. Ich wundere mich, dass Krokodilstränen vergossen werden, nachdem fast alle im Bundestag vertretenen Parteien mit der Riesterreform einen Reformprozess eingeleitet und unterstützt haben, der die Altersarmut vermehrt.

Mich stört auch, dass so getan wird, als handle es sich um ein Zukunftsproblem. Es ist auch heute schon untragbar, wenn allein fast 120.000 der Menschen über 75 Jahre zusätzlich zu ihrer Rente einen Mini-Job ausüben müssen, um leben zu können.

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Zur Person

Christoph Butterwegge (Foto: picture alliance / dpa)
Prof. Dr. Christoph Butterwegge ist Direktor des Instituts für Vergleichende Bildungsforschung und Sozialwissenschaften an der Universität zu Köln. Seit Jahren beschäftigt er sich mit den Themen Armut und Sozialstaat. Demnächst erscheint von ihm das Buch „Armut im Alter – Probleme und Perspektiven der sozialen Sicherung“.
 

tagesschau.de: Es heißt häufig, die Überalterung der Gesellschaft sei schuld an der Rentenproblematik. Was ist dran an dieser These?

Butterwegge: Die Entwicklung der Rente hat wenig mit der demografischen Entwicklung zu tun. Allerdings wird immer so getan, als handle es sich hier um ein Naturereignis: Wenn die Gesellschaft kollektiv altert, müssten die Renten sinken oder die Beiträge drastisch steigen. Das ist aber eine politische Milchmädchenrechnung. Denn die Höhe der Rente ist keine Frage der Biologie: Wie alt ist die Gesellschaft? Sondern erstens eine Frage der Ökonomie: Wie groß ist der gesellschaftliche Reichtum zu dem Zeitpunkt, zu dem die Rente bezahlt werden muss? Und zweitens eine Frage der Politik: Wie wird der ja weiter wachsende gesellschaftliche Reichtum auf die einzelnen Schichten und Altersgruppen verteilt?

Die Demografie fungiert als Mittel der sozialpolitischen Demagogie, weil eine Entwicklung als zwangsläufig dargestellt wird, die politisch gestaltbar ist. Wenn das Bruttoinlandsprodukt steigt – alle vorliegenden Prognosen besagen das – und wenn die Bevölkerungszahl gleichzeitig abnimmt, dann ist ein größerer Kuchen auf weniger Menschen zu verteilen. Für alle müsste genug Geld da sein. Es ist aber ungerecht verteilt, und zwar nicht zwischen den Generationen, sondern innerhalb jeder Generation.

tagesschau.de: Aber das Problem bleibt doch, dass immer weniger Beitragszahler immer mehr Rentner finanzieren müssen?

Butterwegge: Das gelingt ihnen dann ohne Schwierigkeiten, wenn die Arbeitsproduktivität steigt und damit der gesellschaftliche Reichtum – gerade von mir mit einem Kuchen verglichen – wächst. Wer schon mal den Kuchen für einen Kindergeburtstag gebacken hat, weiß: Wird die Torte größer, die Zahl der Besucher aber kleiner als erwartet, ist für jedes Kind ein größeres Tortenstück da.

Demografie-Prognosen ähneln der Kaffeesatzleserei

 

tagesschau.de: Die Demografie spielt also überhaupt keine Rolle?

Butterwegge: Nein. Hinzu kommt, dass viele Prognosen von Bevölkerungswissenschaftlern an Kaffeesatzleserei erinnern. Denn manche Demografen schreiben gegenwärtige Trends einfach fort und wundern sich später, dass ihre Voraussagen nie eingetroffen sind. Wenn ein Demograf im Jahr 1950 Aussagen über die Bevölkerungszahl und Altersstruktur der Bundesrepublik im Jahr 2000 gemacht hätte, hätte er vollkommen daneben gelegen. Er hätte den Pillenknick, die Entwicklung zur Single-Gesellschaft und die Wiedervereinigung nicht berücksichtigen können. Für mich verbirgt sich hinter solchen Prognosen vielmehr der Versuch, den Menschen Angst zu machen, um sie für bestimmte Reformmaßnahmen zu gewinnen, die nicht ihren Interessen entsprechen.

tagesschau.de: Wer hat davon etwas?

Butterwegge: Die private Versicherungswirtschaft, Banken und Finanzdienstleister. Es wird der Eindruck erweckt, aufgrund der Alterung der Gesellschaft könne die gesetzliche Rente keine Sicherheit mehr bieten und jeder müsse privat vorsorgen. Wer kapitalgedeckte Renten verkauft, profitiert von demografischen Horrorszenarien, die auch die Rentenpolitik der vergangenen Jahre sehr stark beeinflusst haben.

Altersarmut per Gesetz

tagesschau.de: Was ist dann ausschlaggebend für die wachsende Altersarmut?

Butterwegge: Die rot-grüne Koalition hat kurz nach Jahrtausendwende sogenannte Dämpfungsfaktoren – oder besser: Kürzungsfaktoren – in die Rentenanpassungsformel eingebaut. Dadurch wird das Rentenniveau bis zum Jahr 2030 um etwa ein Viertel gesenkt. Wenn das geschieht, bekommt natürlich eine zunehmende Zahl von Menschen nur noch Mini-Renten. Ich nenne es Altersarmut per Gesetz. Man hat damit in erster Linie die Arbeitgeber entlastet, aber nicht darauf geachtet, dass ein Mensch nach vielen Jahren Erwerbsarbeit auch Anspruch auf eine angemessene Rente hat.

tagesschau.de: Kann die von Ursula von der Leyen vorgeschlagene Zuschussrente dieses Problem lösen?

Butterwegge: Die Zuschussrente ist reine Augenwischerei, weil sie am eigentlichen Problem nichts ändert. Sie würde nur eine ganz kleine Gruppe von Menschen überhaupt erreichen. Und auch bei diesen wenigen würde sie effektiv nichts gegen Altersarmut ausrichten: Denn von der geplanten Aufstockung auf 850 Euro brutto im Monat sind noch Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung zu entrichten. Es bleiben am Ende nur noch 764 Euro im Monat. Davon kann man in Deutschland nicht leben, ohne arm zu sein.

Fragwürdig ist auch, dass bestimmte Gruppen wie Langzeitarbeitslose gar nicht in den Genuss des Rentenzuschusses gelangen würden, weil lange Pflichtbeitragszeiten als Voraussetzung festlegt wurden und für Hartz-IV-Bezieher keine Beiträge mehr in die Rentenversicherung gezahlt werden. Auch dass Menschen mit Kindern bei der Zuschussrente bevorzugt werden, erschließt sich mir nicht. Denn die haben wenigstens eine Chance, von ihrem Nachwuchs etwas Geld zugesteckt zu bekommen.

Gesetzliche Rentenversicherung wurde demontiert

tagesschau.de: Ist das Modell der beitragsfinanzierten Rente für die Zukunft überhaupt noch realistisch?

Butterwegge: Ja, absolut. Ich würde am Sozialstaat, an den Sozialversicherungen als dessen Kern und auch an der gesetzlichen Rente festhalten. Von einer steuerfinanzierten Grundrente, wie sie jetzt diskutiert wird, halte ich nichts. Denn die wäre noch viel niedriger, weil sie ja an alle bezahlt werden müsste. Falls sie nicht an alle gezahlt würde, wäre es eine bedarfsgeprüfte Sozialleistung. Die gesetzliche Rente ist aber kein Almosen, sondern die Anerkennung von Lebensleistung, weil sie auf der Zahlung von eigenen Beiträgen beruht. Damit ist sie übrigens auch verfassungsrechtlich geschützt.

Allerdings wurden der Sozialstaat und die Gesetzliche Rentenversicherung zuletzt von Bundesregierungen unterschiedlicher Zusammensetzung systematisch demontiert. Und das Ergebnis, die zunehmende Altersarmut, lastet man jetzt der Gesetzlichen Rentenversicherung an. Das ist eine politische Sündenbockstrategie.

Private Vorsorge ist keine Alternative

tagesschau.de: Bräuchte es Ihrer Meinung nach gar keine private Altersvorsorge?

Butterwegge: Die private Altersvorsorge ist keine Alternative zur gesetzlichen Rente und auch keine gute Ergänzung, weil kapitalgedeckte Altersvorsorge vor allem dazu führt, dass Versicherungen, Banken und Finanzdienstleister höhere Gewinne machen. Die Krisenhaftigkeit der Finanzmärkte ist uns deutlich vor Augen geführt worden. Ausgerechnet dort Geld für das Alter anzulegen, birgt ungeahnte Risiken.

Die umlagefinanzierte gesetzliche Rente ist die bessere Art, fürs Alter vorzusorgen, und müsste stärker gefördert werden. Stattdessen ist sehr viel Geld in die kapitalgedeckte Vorsorge geflossen. Wären beispielsweise die rund 45 Milliarden Euro, die der Staat und die Versicherten in die Riesterrente gesteckt haben, in die gesetzliche Rentenversicherung geflossen, würde es ihr gelingen, die Menschen vor Altersarmut zu schützen.

 

tagesschau.de: Was wäre Ihre Strategie gegen Altersarmut?

Butterwegge: Die Dämpfungsfaktoren in der Rentenanpassungsformel müssten rückgängig gemacht werden. Also der sogenannte Riesterfaktor, der Nachhaltigkeitsfaktor und der Nachholfaktor. Auch die Rente mit 67 müsste wieder abgeschafft werden, denn auch das ist eine verkappte Rentenkürzung. Außerdem müssten die Löhne steigen. Das Problem bei den niedrigen Renten ist ja, dass der Niedriglohnsektor weiter wächst und es immer mehr Leiharbeit, Werkverträge und Mini-Jobs gibt. Stattdessen bräuchten wir mehr sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse. Dafür sollte Frau von der Leyen sorgen.

Das Interview führte Sandra Stalinski, tagesschau.de

 

Rente nach Mindesteinkommen

 Weder die Zuschussrente noch die Mindestrente sind geeignet, Armut im Alter zu vermeiden, was u.a. dem Interview entnommen werden kann. Eine Mindestrente ist darüber hinaus höchst ungerecht und systemwidrig, weil sie eine vorherige Beitragszahlung nicht zur Voraussetzung hat.

Hingegen wäre die Rente nach Mindesteinkommen eine Möglichkeit, unzureichende Rentenanwartschaften aufzustocken. Diese Rente nach Mindesteinkommen, die es als Maßnahme des sozialen Ausgleichs gegeben hat, aber 1992 ersatzlos gestrichen worden ist, hat eine jahrzehntelange Beitragszahlung zur Voraussetzung, ist also das genaue Gegenteil einer Mindestrente.

 

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