Agenda 2020

Man muss mit dem ehemaligen Bundeskanzler Schröder nicht übereinstimmen, besonders wegen der Umverteilung zu Lasten der Arbeitnehmer und Rentner, die immer noch existent ist. Seine Positionen zur Flüchtlingssituation sind jedoch konstruktiv. Lesen Sie das leicht gekürzte Interview mit  Matthias Iken und Jochen Gaugele vom Hamburger Abendblatt.

Hannover.  Das Klingelschild an der Stadtvilla im Zooviertel von Hannover weist ihn mit seinem gelernten Beruf aus: Rechtsanwalt Gerhard Schröder. Nach wenigen Sätzen ist der Altkanzler aber wieder ganz im Modus des politischen Alphatiers.

Herr Schröder, wachen Sie manchmal morgens auf und denken: „Gut, dass ich nicht mehr Bundeskanzler bin“?

Gerhard Schröder: Nein, das war nie meine Haltung. Ich bin ja nicht freiwillig aus dem Amt gegangen, sondern habe eine Wahl verloren. Aber sicherlich sind die aktuellen Herausforderungen für die Bundeskanzlerin sehr groß.

Eurokrise, Flüchtlingskrise – das Regieren ist schwieriger als zu Ihrer Zeit.

Schröder: Wenn Sie auf unsere Geschichte nach 1949 schauen, werden Sie feststellen, dass es für einen Bundeskanzler nie einfach war. Das Regieren ist heute einerseits durch die vielen internationalen Konflikte schwieriger geworden. Andererseits ist es leichter geworden, weil es uns in Deutschland, auch wegen der Agenda 2010, wirtschaftlich glänzend geht.

Trauen Sie der Merkel-Regierung zu, die Flüchtlingskrise in den Griff zu bekommen?

Schröder: Man kann die Flüchtlingskrise in den Griff kriegen. Frau Merkels Entscheidung vom vergangenen September, die Grenzen für Flüchtlinge zu öffnen, war richtig. Ein Fehler jedoch war, diesen Ausnahmezustand zur Normalität zu erklären. Jetzt ist man dabei, diesen Fehler der Vergangenheit nachträglich zu reparieren. Dabei passieren dann auch Unachtsamkeiten, wie man beim Asylpaket II sieht.

Die Partner in Süd- und Osteuropa erklären den Flüchtlingszustrom zum rein deutschen Problem. Ist das die Quittung für Merkels Härte in der Eurokrise?

Schröder: Europa basiert auf dem Grundgedanken der Solidarität. Wenn die osteuropäischen Staaten jetzt keine Solidarität gegenüber Deutschland zeigen, warum sollte Deutschland dann bei den Finanzverhandlungen für den künftigen EU-Haushalt Solidarität gegenüber Staaten wie Polen oder Ungarn zeigen? Solidarität ist also keine Einbahnstraße. Die Renationalisierung in einigen Mitgliedsstaaten ist für die EU eine große Gefahr. Dem muss sich Deutschland als wichtigstes Land in der Mitte Europas entgegenstellen. Dafür brauchen wir wieder eine stärkere deutsch-französische Zusammenarbeit. Zwischen Berlin und Paris hat es in der Euro-Krise erhebliche Differenzen gegeben, die immer noch nicht ausgeräumt sind. Und auch in der Flüchtlingspolitik gibt es zu wenig Abstimmung mit Frankreich. Hier können die heute Regierenden von Helmut Kohl lernen, der immer gemahnt hat, besonderen Respekt vor unserem wichtigsten Partner in Europa zu zeigen.

Um die Solidarität innerhalb der Regierungskoalition ist es nicht zum Besten bestellt. CSU-Chef Seehofer geht inzwischen so weit, Merkel eine „Herrschaft des Unrechts“ zu unterstellen. Bereitet man so einen Kanzlersturz vor?

Schröder: Es liegt auf der Hand, dass Herr Seehofer da Unsinn geredet hat. Aber das ist ein Problem, das die Schwesterparteien CDU und CSU untereinander klären müssen.

War eigentlich Seehofers Moskau-Visite im Interesse des Landes?

Schröder: Gerade in Krisensituationen muss man miteinander reden. Und zwar auf allen Ebenen. Was Herr Seehofer gemacht hat, gehört auch zu den Aufgaben eines Ministerpräsidenten. Insofern ist das keine Neben-Außenpolitik, sondern durchaus im deutschen Interesse.

Seehofer hat sich von Merkel abgesetzt – und eine Lockerung der Sanktionen gegen Russland gefordert.

Schröder: Das ist ja auch meine Position, denn die Sanktionen schaden beiden Seiten. Sie sind keine Hilfe, sondern ein Hindernis bei der Lösung des Konflikts. Daher sollte man die Sanktionen schrittweise abbauen. Wir brauchen auch eine andere NATO-Politik gegenüber Russland. Ich halte es für sehr bedenklich, dass die NATO an der europäisch-russischen Grenze jetzt aufrüstet. Die Substanz unserer Ostpolitik wird damit zerstört. Wir brauchen stattdessen Deeskalation. Das gilt auch für das Raketenabwehrsystem, das in Osteuropa aufgebaut wird. Es sollte ja vor einer Bedrohung durch den Iran schützen. Aber die Russen müssen jetzt glauben, dass es sich gegen sie richtet. Nach den erfolgreichen Iran-Verhandlungen könnte man auch hier einen Schritt auf Russland zugehen.

Wäre eine Lockerung der Sanktionen ein kluges Signal angesichts des russischen Bombardements in Syrien?

Schröder: Erstens geht es bei den Sanktionen um die Ukraine. Man sollte sie nicht mit der russischen Politik in Syrien verquicken. Zweitens muss man sehen, dass in Syrien eine dramatische und ziemlich undurchschaubare Situation vorherrscht. Man wird diesen Konflikt nicht alleine mit militärischen Mitteln lösen können, auch wenn sie zur Bekämpfung des IS notwendig sind. Im Übrigen muss man verstehen, dass die Ursache der Konflikte im Irak und in Syrien auf das Jahr 2003 zurückgeht: Die Amerikaner haben im Irak interveniert, ohne eine Vorstellung davon zu haben, was danach passieren sollte. Das war ja mit ein Grund, warum ich den Irak-Krieg abgelehnt habe. Die USA haben also eine besondere Verantwortung für eine Lösung und die Wiederherstellung des Friedens in der Region.

Es sind russische, nicht amerikanische Kampfjets, die jetzt die syrische Stadt Aleppo bombardieren…

Schröder: Militärische Interventionen sind am wenigsten geeignet, um Konflikte zu lösen. Jetzt müssen alle Beteiligten an den Verhandlungstisch in Genf zurückkehren, wie beim Treffen der Syrien-Kontaktgruppe in München vereinbart. Außenminister Steinmeier verdient ein großes Lob für seine Arbeit. Es ist klar, dass es ohne Russland, aber auch ohne Saudi-Arabien und Iran keine Lösung geben wird. Russland hat bei den Iran-Verhandlungen eine sehr konstruktive Rolle gespielt. Das hat gezeigt, dass Diplomatie erfolgreich sein kann. Daran kann und muss man anknüpfen. Und man wird, auch wenn es schwer fällt, den syrischen Präsidenten Assad in den Prozess einbeziehen müssen. Sein Abtritt kann nicht am Anfang, aber am Ende der Verhandlungen stehen.

Wie denken Sie über die These, Moskau betreibe die Destabilisierung Europas – nicht zuletzt mit einem Propaganda-Krieg?

Schröder: Naja, da sollten wir ruhig ein bisschen selbstbewusster sein: Ich bin fest davon überzeugt, dass Deutschland und seine Demokratie nicht destabilisierbar sind. Durch niemanden.

Wie ernst nehmen Sie Hinweise, dass Moskau rechtspopulistische und rechtextremistische Parteien in Europa unterstützt – auch die AfD?

Schröder: Der Grund für das Entstehen dieser Gruppierungen liegt nicht in Moskau, sondern in unseren eigenen Gesellschaften. Wir müssen jede Form von Rechtsextremismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit entschieden bekämpfen. Dazu gehört auch, sich offensiv und öffentlich mit der AfD auseinanderzusetzen.

Und dann verschwindet die AfD einfach wieder?

Schröder: Es wird schon sichtbar, was da für Figuren am Werk sind. Die Diskussion über das Schießen auf Frauen und Kinder an Grenzen spricht Bände. Die AfD richtet sich selber. Ich bin sicher, dass sich dieses Phänomen erledigt, wenn die Integration der Flüchtlinge gelingt und es zu einer Begrenzung der Zuwanderung kommt.

Wonach es nicht aussieht.

Schröder: Was uns fehlt, ist ein modernes Zuwanderungsrecht. Wir haben das während meiner Amtszeit vorgelegt, es ist aber damals an der CDU gescheitert. Wir haben drei Gruppen: Migranten, die bei uns Arbeit suchen, Bürgerkriegsflüchtlinge und Asylbewerber, die aus anderen Gründen zu uns kommen. Ein Zuwanderungsrecht könnte für Fachkräfte gelten. Kriegsflüchtlinge sollten wir über Kontingente aufnehmen. Und die übrigen Fälle würden über das Asylsystem geregelt. Jetzt ist es so, dass Hunderttausende Menschen in das Asylverfahren gepresst werden, die dort gar nicht hineingehören. Die Folge ist eine Überforderung des zuständigen Bundesamts. Daher brauchen wir ein neues Zuwanderungsgesetz, um die Migration zu steuern und zu begrenzen. Da sollte nicht, wie es die Kanzlerin angekündigt hat, bis zur nächsten Legislaturperiode gewartet werden. Das ist zu spät.

 Muss der nächste Kanzler – ganz gleich, wer die Bundestagswahl gewinnt – eine Reformagenda 2020 umsetzen?

Schröder: Ja. Aber die nächste Agenda wird anders aussehen müssen, als die Agenda 2010, die unter meiner Verantwortung entstanden ist. Im letzten Jahr sind mehr als eine Million Flüchtlinge nach Deutschland gekommen. Bis Ende dieses Jahres werden es wohl zwei Millionen sein. Im Zentrum einer Agenda 2020 muss ein Integrationsgesetz stehen …

… das was genau regelt?

Schröder: Ein Integrationsgesetz sollte sicherstellen, dass Flüchtlinge zügig die deutsche Sprache lernen können. Dafür müssen die Voraussetzungen, also genügend Kursangebote, geschaffen werden. Es geht auch um die Schulausbildung der Kinder, um Wohnungen und Arbeitsplätze. Auch die Finanzierung der Integration muss geklärt werden, denn Länder und Kommunen dürfen nicht die Hauptlast tragen. Von der Frage, wie gut die Flüchtlinge integriert werden, wird abhängen, ob die Gesellschaft die Flüchtlinge als Belastung oder als Chance wahrnimmt. Wir können die Integration schaffen. Aber dazu muss schnellstmöglich ein umfassendes und durchfinanziertes Programm vorgelegt werden.

 

 
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