Mißachtung von Grundrechten

Die Aufregung und die Empörung waren groß nach den Sylvesternächten in Hamburg und Köln. Massenhaft sollen Flüchtlinge an Frauen sexuelle Handlungen begangen haben. Tausende von Anzeigen sind efolgt. Die gerichtliche Aufarbeitung ist ernüchternd. Lesen Sie dazu den Beitrag von Bettina Mittelacher, dem HA entnommen.

Neustadt. Das Gesicht, der Teint, die Haare: Alles stimmt. Alles passt zu der Erinnerung an jenen Mann, der mit verschuldet hat, dass das vergangene Silvester für Annika N. (Name geändert) zu einem albtraumhaften Erlebnis wurde. Die 19-Jährige ist noch heute erschüttert, wenn sie daran denkt, wie sie auf der Großen Freiheit von mehreren Männern eingekesselt und begrapscht wurde. Und der Mann auf der Anklagebank im Prozess vor dem Schöffengericht, davon ist die Frau zunächst überzeugt, sei jener Täter, der sie festgehalten und die sexuellen Übergriffe ermöglicht habe. Doch später gerät ihre Sicherheit ins Wanken, nun möchte sie den Mann als Täter eher ausschließen. Damit wird klar: Das Urteil im ersten Prozess um die Übergriffe aus der Silvesternacht auf dem Kiez muss mit Freispruch enden.

Und damit gerät dieses Verfahren auch zu einem Musterbeispiel dafür, wie schwierig es manchmal mit der Wiedererkennung von vermeintlichen Tätern ist. Mehr als 400 betroffene Frauen und 243 Strafanzeigen: Das war die schlimme Bilanz zu den Feierlichkeiten des Jahreswechsels im Bereich der Reeperbahn. Und nun musste sich am Donnerstag Ghafur N. als erster Angeklagter im Zusammenhang mit den Vorkommnissen vor dem Schöffengericht verantworten. Der 30-Jährige ist wegen gemeinschaftlicher sexueller Nötigung und Beleidigung angeklagt. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm vor, eine junge Frau, die von mehreren Männern bedrängt wurde, mit den Worten „I will help you“ angesprochen zu haben. Dann habe er ihr jedoch nicht aus der Situation herausgeholfen, sondern die Studentin an der Hüfte festgehalten und damit den anderen Tätern die Gelegenheit gegeben, das Opfer mehrfach im Intimbereich zu berühren. Ferner habe der 30-Jährige im Gedränge den Rock einer 24-Jährigen hochgeschoben und die Frau am Gesäß und im Intimbereich angefasst, heißt es in der Anklage weiter.

Doch der Verteidiger von Ghafur N. erklärt, sein Mandant habe „mit den Vorwürfen nichts zu tun“. „Nicht einmal zu einem Prozent stimmt das“, ergänzt entschieden der zierliche, hohlwangige Angeklagte, der im Oktober vergangenen Jahres aus Afghanistan nach Deutschland flüchtete und nun wegen der Vorwürfe seit vier Monaten in Untersuchungshaft sitzt.

Mit zaghafter Stimme und bemüht, ihre Tränen zu unterdrücken, schildert die 19-Jährige Annika N., was ihr Silvester widerfahren ist. Es sei „eng“ gewesen. „Es wurde immer voller. Ich war von Männern eingekeilt.“ Einer sei von hinten an sie herangetreten und habe sie festgehalten. Sie habe zunächst geglaubt, dass er sie zur Seite ziehen wollte, erzählt die Zeugin. Dann aber habe sie gemerkt, dass der Täter sie für andere Männer festgehalten habe. „Da habe ich versucht, mich aus der Umklammerung zu lösen. Ich habe versucht, ihn wegzudrücken.“ Später erstattete sie Anzeige und betrachtete schließlich bei der Polizei Fotos von Verdächtigen. Der Verteidiger kritisiert, wie bei der Vorlage der Fotos und der polizeilichen Vernehmung vorgegangen worden sei. So sei es unter anderem „katastrophal“, dass die Vernehmung erst einen Tag nach dem Betrachten der Fotos erfolgt sei und erst am folgenden Tag protokolliert wurde. Auch dass es keine ordentliche Dokumentation gebe, widerspreche allen Regeln.

Doch auf zwei Bildern habe sie das Gesicht des Täters wiedererkannt, sagt die Zeugin. „Auch das Erscheinungsbild passte.“ Es handele sich um „die Person, die mich festgehalten hat“, ist die junge Frau sicher. Und auf die Frage der Vorsitzenden, ob sie nun im Verhandlungssaal den Angeklagten als den Mann wiedererkenne, sagt sie „Ja“.

Doch da ist das Problem mit der Größe. Sie sei „der Meinung, dass er größer war als ich und ich zu ihm aufgeschaut habe“, schildert die 19-Jährige weiter. Sie selber sei 1,74 Meter groß, der Angeklagte misst aber laut Polizei lediglich 1,69 Meter. „Ich bin mir eigentlich sicher, dass die Person das ist“, beharrt die Zeugin. „Aber auch, dass er größer war.“ Auf Anregung der Staatsanwältin stellt sich der Angeklagte hin, die Zeugin betrachtet ihn eingehend. „Wenn Sie ihn von der Statur her ansehen, würden Sie ihn dann jetzt als Täter ausschließen?“, hakt die Anklägerin nach. „Wahrscheinlich schon“, entscheidet die 19-Jährige nun.

Auch eine zweite Zeugin, die laut Anklage am Gesäß und im Intimbereich angefasst wurde, kann den Angeklagten nicht als Täter identifizieren. Sie erzählt von „Menschenmassen“ und dass sie „festgesessen“ habe. „Ich wurde von allen Seiten angefasst.“ Sie sei durch den Vorfall „total aufgelöst“ gewesen. An die Statur eines der Täter könne sie sich wohl erinnern. „Aber ich habe kein Gesicht vor Augen. Ich weiß nicht, wer mich da angefasst hat. Das waren einfach zu viele Hände.“

Am Ende lautet das Urteil auf Freispruch, der Haftbefehl gegen Ghafur N. wird aufgehoben. Der Angeklagte muss für die erlittene Untersuchungshaft entschädigt werden. Laut Gesetz stehen ihm 25 Euro pro Tag zu. Einen Täter zweifelsfrei wiederzuerkennen sei schwierig, betont die Vorsitzende Richterin. „Es mischen sich sehr viele Faktoren in die Erinnerung und damit in die Wahrnehmung ein.“ Es habe sich in der Silvesternacht um eine „schwierige und perfide Situation“ gehandelt. Gleichwohl müsse sorgfältig geprüft werden, ob ein Angeklagter als Täter wirklich überführt werden könne. „Überlegen Sie, was Sie vom Rechtsstaat erwarten würden, wenn Ihnen ein solcher Vorwurf gemacht würde.“

Verteidiger Philipp Götze freute sich über den Freispruch: „Die Unschuld meines Mandanten ist heute erwiesen worden“, sagte der Anwalt. „Er freut sich, nach vier Monaten Untersuchungshaft seine Familie wiedersehen zu können.“

Kommentar

Dieses geschilderte Verfahren, welches mit einem Freispruch und einer Haftentschädigung beendet worden und eines Rechtsstaates würdig ist, wird nicht das letzte Verfahren sein, welches mit einem Freispruch enden wird. Das liegt nicht nur daran, dass es bei nächtlichen Menschenansammlungen und dem damit verbundenen Distanzverlust zu Überreaktionen kommen kann; es liegt auch daran, dass eine Vielzahl von Anzeigen erst Tage nach Sylvester erfolgt ist und nicht erklärt werden kann, zumal es lediglich in Hamburg und Köln dazu gekommen ist. Die normale Reaktion auf einen sexuellen Übergriff ist die sofortige Anzeige spätestens am Tag danach. Die meisten Anzeigen sind aber viel später erfolgt.

Entweder hat es sich nicht um sexuell motivierte Übergriffe gehandelt, oder aber die Sylvesterübergriffe haben überwiegend gar nicht stattgefunden. Stimmt die zweite Variante, sind die wenigen sexuellen Übergriffe genutzt worden, um mit einer gesteuerten Aktion, die zu einer Vielzahl von Anzeigen geführt hat,  Stimmung gegen Flüchtlinge und für restriktive gesetzliche Regelungen zu machen.

Mit Erfolg, wie man jetzt auch angesichts des deutlichen Anstiegs von Gewalttaten gegen Flüchtlinge feststellen muss.

Ausgeblendet werden die sexuellen Übergriffe, die in der Familie und im familiären Umfeld stattfinden und nur selten geahndet werden, auch weil es kaum zu Anzeigen kommt, obwohl viele Übergriffe schwerwiegend sind. Daraus ergibt sich, dass wir eine gesellschaftliche Debatte über die Wahrung der Grundrechte benötigen. Wer z.B. das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit mißachtet, und dazu gehört die sexuelle Selbstbestimmung, darf nicht mit der Duldung seines Verhaltens rechnen, auch nicht in seinem Umfeld. Wer die Mißachtung von Grundrechten duldet, ist kein Demokrat.

Solchen Leuten ist der demokratische Rechtsstaat suspekt. Sie wollen eine andere Republik. Dazu gehört nicht nur die rechtsradikale AfD, sonden auch alle, die offen oder klammheimlich mit ihr sympathisieren. Dazu gehören inzwischen auch Journalisten des ZDF.

Rolf Aschenbeck

 

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