Agenda 2010 wiederholt sich

Seit Februar mehren sich die Proteste gegen das neue Arbeitsgesetz in Frankreich, gegen die Beschneidung der Rechte nicht nur der Arbeitnehmer. „Wir sind mehr wert als das“, skandieren sie auf allen medialen Kanälen und den Plätzen der Republik. Lesen Sie den Beitrag von Guillaume Paoli, ver.di-publik entnommen.

„Es gibt keine linke Alternative“, betonte Staatspräsident Hollande eines Abends im Fernsehen, nachdem gerade erneut gegen das geplante Arbeitsgesetz demonstriert worden war. Damit ist alles gesagt. Um diese Behauptung dreht sich die dramatische Ereignisfolge, die Frankreich seit Februar 2016 erschüttert. Zur Amputation der Arbeitnehmerrechte gebe es kein Gegenmodell, allenfalls ein „rechtes“, also dasselbe, nur eine Nummer größer. Es gehe nicht um gegensätzliche Auffassungen oder Interessen, sondern einzig um wirtschaftliche Vernunft. Als Zeuge wird die Agenda 2010 zitiert, obwohl die Mär längst widerlegt ist, sie habe zur Gesundung Deutschlands beigetragen.

Wochenarbeitszeiten von bis zu 60 Stunden

Das französische Pendant der Agenda 2010 wird stückweise geliefert. Dem neuen Arbeitsgesetz waren ein „Wettbewerbspakt“ und ein „Verantwortungspakt“ vorausgegangen, die den Unter- nehmen riesige Steuerentlastungen einbrachten. Es folgte das Macron-Gesetz, das Nacht- und Sonntagsarbeit ausweitete, Zugangsbeschränkungen für bestimmte Berufe abschaffte und auch bereits den Kündigungsschutz lockerte. Und nach dem jüngsten Gesetzestext dürften Unternehmen schon entlassen, wenn sie vier Quartale hintereinander rote Zahlen schreiben. Die Wochenarbeitszeit könnte bis auf 60 Stunden erhöht werden, dabei würden die Überstunden geringer bezahlt.

Bei der Festlegung der Höhen von Abfindungen und Entschädigungen werden die Arbeitsgerichte geschwächt. Besonders umstritten ist der Artikel 2, wonach Arbeitszeit und Löhne innerbetrieblich vereinbart werden dürfen und nicht mehr auf Branchenebene. Im Klartext: In Betrieben, in denen die Arbeitnehmervertretung schwach ist, kann der Unternehmer entscheiden, wie er will. Darin liegt, so Premierminister Manuel Valls, „die ganze Philosophie des Textes“.

Kaum war der Gesetzentwurf bekannt gegeben worden, unterschrieben weit über eine Million Menschen eine Petition dagegen, die online gestellt worden war. Auf Twitter hieß der beliebteste Hashtag: „Wir sind mehr wert als das“. Es war bereits abzusehen, dass der Protest gegen das neue Arbeitsgesetz das gewöhnliche Maß übersteigen würde. Am 9. März 2016 fand die erste gewerkschaftlich organisierte Demonstration statt. Aufgerufen hatten die CGT, FO und SUD. Anders als 2010 beim Protest gegen Sarkozys Rentenreform schloss sich die CFDT nicht an.

Frankreichs zweitgrößte Gewerkschaft hat schon lange ihre „liberale Wende“ hinter sich und ist mit Hollandes Parti Socialiste personell und strukturell verwoben. Die CFDT beschränkte sich in diesem Frühjahr darauf, Einzelpunkte im Gesetzestext anzufechten, die dann sofort zurückgenommen wurden – womöglich waren sie in erster Linie genau zu diesem Zweck auch geschrieben worden. Denn so konnte der Schein des sozialen Dialogs gewahrt werden.

Ein zweiter nationaler Protesttag sollte erst drei Wochen später folgen, doch in der Zwischenzeit mobilisierten sich Schüler/innen und Studierende. Sie besetzten zahlreiche Gymnasien und Universitäten, organisierten eigene Demonstrationen. Um diese unvorhergesehene Entwicklung im Keim zu ersticken, ging die Polizei gegen die Jugendlichen besonders brutal vor, mit dem Gegeneffekt, dass die Empörung erst recht anstieg. Am 31. März demonstrierten in mehreren Städten über eine Million Menschen. Nach der Kundgebung in Paris beschlossen einige tausend Teilnehme­r/innen, anstatt ausein- anderzugehen, den Platz der Republik dauerhaft zu besetzen. Die „Nuit Debout“ („Die Aufrechten der Nacht“) war geboren. Rasch säte sich die Initiative im ganzen Land aus. In weit über hundert Städten und Vorstädten versammelten sich Bürger und Bürgerinnen Abend für Abend zum gegenseitigen Austausch.

Die neoliberale Katastrophe stoppen

Oft konstruieren Medien einen Gegensatz zwischen der bürgerbewegten, modernen Nuit Debout und „altlinken“ Arbeitskämpfen, doch diese Behauptung hält nicht stand. Die Plätze werden von Arbeitnehmer/innen, prekär Beschäftigten, Erwerbslosen und Studierenden besetzt, die alle von der Demontage des Arbeitsrechts direkt betroffen sind. Die Bewegung Nuit Debout ist vor allem eine Gelegenheit, sich mit Leuten in Verbindung zu setzen, die beruflich wie sozial aus anderen Zusammenhängen kommen. Sie entstammt der Notwendigkeit, effektive Wege zu finden, um die neoliberale Katastrophe zu stoppen.

Dass dafür vereinzelte Demonstrationen und Streiktage nicht reichen würden, verdeutlichte die Sturheit der Regierung sofort. Allerorts wurde nach einer „Zusammenführung der Kämpfe“ gerufen, und die Nuit Debout begnügte sich nicht damit, stundenlang über eine bessere Welt zu sinnieren. Von hier aus wurden viele vereinzelte Arbeitskonflikte unterstützt, bei McDonalds-Beschäftigten etwa, Eisenbahnern oder Supermarktverkäuferinnen. Auch Flüchtlingen wurde gegen Zwangsräumungen beigestanden.

Beim Nationalkongress der CGT Ende April riefen mehrere Sektionen nach einem weitflächigen unbefristeten Streik. Entgegen der Behauptungen der Medien ist der CGT-Vorsitzende Philippe Martinez keineswegs der kompromisslose Drahtzieher der Bewegung. Eher zaghaft ging Martinez in diesen Kampf. Es war die Basis, die sich für eine Verschärfung entschied. Über alle Streiks und Blockaden stimmen und stimmten die Belegschaften mehrheitlich ab. Am folgenden Protesttag, dem 28. April, wurde in vielen Betrieben die Arbeit niederlegt. Außerdem kam es auch erstmalig zu Blockaden von Häfen, Ölraffinerien und Autobahnen.

Der Sinn eines politischen Arbeitskampfs ist es, eine Regierung durch die Lahm- legung der Wirtschaft zum Einlenken zu brin­gen. In Zeiten der Deindustrialisierung, der Massenerwerbslosigkeit und der zerbröckelten Arbeitsteilung wird aber der Generalstreik in Frankreich zunehmend wirkungslos. Zusätzlich wird daher versucht, die Warenflüsse zu unterbrechen, die Lieferketten, den Personenverkehr, die Energieversorgung. Es kam zu Blockaden, und die haben einen Vorteil: Alle können sich beteiligen, auch Arbeitslose oder Leiharbeiter, für die sonst Widerstand schwer möglich ist. Sie haben aber auch einen Nachteil: Da sie meist am Rande der Legalität agieren, werden sie mit Gewalt aufgelöst.

Ausnahmezustand verlängert

Ohnehin findet keine Demonstration ohne Ausschreitungen statt, und diese werden von der Polizei offenbar auch gewollt: Unzählige Videoaufnahmen sowie die Profile der zahlreichen Verletzten und Festgenommenen widerlegen die Mär von „Black Blocks“, die friedliche Proteste angeblich eskalieren ließen. Selbst während der traditionellen Gewerkschaftsdemonstration am 1. Mai ist mit Tränengas, Gummigeschossen und Blendgranaten gegen die Menge geschossen worden. Offensichtlich will die Regierung ihre Opponenten von weiteren Demonstrationen abschrecken. Dazu nutzt sie den bis Ende Juli verlängerten Ausnahmezustand, um menschenrechtswidrige Maßnahmen wie Hausarreste oder Demonstrationsverbote zu erteilen.

Noch deutlicher zeigte sich die Verachtung des Mehrheitswillens, als am 10. Mai das neue Arbeitsgesetz ohne Abstimmung der Nationalversammlung durchgesetzt wurde. Selbst im Parlament war dafür keine Mehrheit zu finden. Den Notparagraf 49.3 der Verfassung, der diesen Griff erlaubt, hatte Hollande eine „Demokratieverweigerung“ genannt, als er noch in der Opposition war. Allerdings soll der Gesetzestext noch vom konservativ dominierten Senat abgeändert werden, dann wieder vor die Nationalversammlung kommen, bis er Ende Juli definitiv verabschiedet wird. Eine Frist gibt es also noch, deshalb geht der Protest weiter.

Seit der dritten Maiwoche spitzt sich die Kraftprobe zu. Alle Ölraffinerien des Landes werden bestreikt, Öltanker werden in den Häfen blockiert, die AKW-Arbeiter verringern die Stromproduktion, Eisenbahner rufen zum unbefristeten Streik auf. Arbeitgeberverband, bürgerliche Opposition und CFDT flehen die Regierung an, jetzt unnachgiebig zu bleiben, ein Rückzieher würde eine tiefe institutionelle Krise verursachen. Andererseits wissen die revoltierenden Gewerkschaften, dass sie um ihr Überleben kämpfen. Vor allem wird sich die allgemeine Empörung im Lande nicht so leicht besänftigen lassen. Es steht eine Stunde der Entscheidung bevor.

Kommentar

Die Sozialisten in Frankreich, den Sozialdemokraten in Deutschland vergleichbar, sind gerade dabei, sich selbst zur politischen Restgröße zu degradieren. Ihr Vorbild ist die SPD, die sich mit ihrer Agenda 2010 als Volkspartei, aber insbesondere als Partei der Arbeitnehmer und Rentner, verabschiedet und als jetzige 20% Partei selbst entmachtet hat.

Anders als in Deutschland lassen sich die Arbeitnehmer die Einschränkung und zum Teil sogar den Wegfall ihrer Rechte nicht gefallen, wehren sich zu Recht und werden dabei solidarisch gestützt von anderen Bevölkerungsgruppen. Zum Zeitpunkt der Agenda 2010 ist es der damaligen rot-grünen Bundesregierung im Verbund mit neoliberalen Organisationen wie z.B. der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) sprachlich und damit inhaltlich gelungen, massiven Sozialabbau als Reform darzustellen. Die negativen Folgen dieser Agenda sind deswegen überwiegend erst erkannt worden, als sie mit gesetzlichen Regelungen umgesetzt wurden. Sie  haben allerdings der SPD auf Dauer geschadet, die bis heute auf der Ebene der Entscheidungsträgern neoliberal ausgerichtet ist, denn sonst hätte sie sich von der Agenda 2010 längst losgesagt.

Tatsächlich hat sich die sprachliche Kumpanei mit den Wortverdrehern des Neoliberalismus für die Verfechter der freien (regelfreien)Marktwirtschaft in der Sache gelohnt und wird sich auch künftig lohnen, denn Begriffe sind Inhalte: Wer über Inhalte bestimmen will, muss die Deutungshoheit über die Begriffe haben. Und wenn dann nützliche Idioten dabei helfen, warum nicht?

Es geht aber nicht nur um bereits vorhandene Begriffe; es geht auch um Wortschöpfungen wie z.B. den Begriff „Schutzschirm„, der vermeintlich erforderlich gewesen ist, weil sich Banken in grenzenloser Gier verzockt hatten und in ihrer Not nach dem Staat gerufen hatten, den sie auch heute noch als Erfüllungsgehilfen ihrer Anliegen sehen.

Rolf Aschenbeck

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