Erinnerung

Vor hundert Jahren starb die bedeutende und einflußreichste Person der Hamburger Arbeiterbewegung. Eine Würdigung von Sven Kummerenke, dem Hamburger Abendblatt entnommen.

Ihn umgab keine Aura. Er war kein Mann, den man stattlich nennen würde. Kein Lautsprecher, kein Volkstribun, kein Polemisierer. „Er hatte nichts von dem, was den Außenstehenden fasziniert“, schrieb der Journalist Josef Bloch über ihn. „Wohl aber alles, was den Näherstehenden umso nachhaltiger festhält.“ Und wenn er in einem Nachruf als „ungekrönter König von Hamburg“ bezeichnet wurde, dann trifft dies seinen Charakter überhaupt nicht, sein Wirken aber bestens. Adolph von Elm, dessen Todestag sich an diesem Sonntag zum 100. mal jährt, war der bedeutendste und einflussreichste Kopf der Hamburger Arbeiterbewegung. Ein kluger Stratege, der keine Revolutionen herbeitheoretisieren, sondern das Los der Arbeiterfamilien im Hier und Jetzt verbessern wollte – was ihm eindrucksvoll gelang.

Vorleser

Von Elm entstammte dem völlig verarmten Zweig einer Adelsfamilie aus dem Erzbistum Bremen, sein Vater war in Wandsbek Zigarrenheimarbeiter – eine ebenso schlecht bezahlte wie gesundheitsschädliche Arbeit. Im 19. Jahrhundert wurden ungleich mehr Zigarren geraucht als heute – und alle wurden per Hand gedreht. Viele Arbeiter starben, bevor sie 30 wurden. Der 1857 geborene von Elm ging als Kind morgens zur Schule und verbrachte seine Nachmittage bei einer Arbeit, die heute skurril anmutet: Er war Vorleser in einer Zigarrenmacher-Bude. Das war damals üblich und diente mehreren Zwecken. Zum einen war es Ablenkung von der öden Arbeit des Zigarren-Rollens, zum anderen ging es um Bildung und Agitation. Denn es waren weniger Romane, die vorgelesen wurden, sondern politische Zeitschriften wie der „Botschafter“, das Organ des Allgemeinen Deutschen Cigarrenarbeiter-Vereins, der in den 60er-Jahren des 19. Jahrhunderts größten deutschen Gewerkschaft.

So war das Vorlesen für Adolph von Elm nicht nur ein Job, sondern auch ideologische Schulung. Und es wurde nicht sein primäres Ziel, selbst dem Elend zu entkommen, sondern es zu beseitigen. Als 1875 die SPD in Gotha gegründet wurde, war er bereits Mitglied. Und als drei Jahre später mit Bismarcks Sozialistengesetz die Verfolgungen begannen, wanderte von Elm mit 21 Jahren in die USA aus. In Detroit und New York arbeitete er als Gewerkschafter und lernte die straff organisierte und dank hoher Mitgliedsbeiträge finanzstarken „Unions“ kennen und schätzen.

Gewerkschafter

Nach vier Jahren kehrte von Elm nach Hamburg zurück, um seine kranke Mutter zu pflegen. Er blieb, und wurde Vorsitzender des „Freundschaftsklubs der Zigarrensortierer“, das war die Gewerkschaft der Facharbeiter. Denn Zigarrensortierer war der einzige Lehrberuf der Branche – bis zu 72 Farbschattierungen mussten die Männer unterscheiden können. Die Sortierer wurden besser bezahlt und fühlten sich als eine Art Elite – nicht wenige kamen mit Krawatte zur Arbeit. Von Elm setzte nach amerikanischem Vorbild hohe Mitgliedsbeiträge durch und dementsprechend hohe Leistungen, vor allem eine aus der Gewerkschaftskasse finanzierte Arbeitslosenversicherung. Die war damals in der Arbeiterbewegung umstritten, viele hielten sie für unfinanzierbar.

Von Elm aber sagte: „Wenn der Hunger zur Tür hineintritt, fliegt das Prinzip zum Fenster hinaus.“ Bert Brecht forumulierte diesen Gedanken später drastischer: „Erst kommt das Fressen, dann die Moral.“

Die Gewerkschaften waren den Arbeitgebern natürlich ein Dorn im Auge – 1890 sperrten sie in Hamburg die Tabakarbeiter aus, um sie zum Austritt zu zwingen. Von Elm riet den Arbeitern, vorgelegte Papiere zu unterschreiben, dass sie die Gewerkschaft verlassen hätten, tatsächlich aber Mitglied zu bleiben. Wenn die Fabrikanten unbedingt belogen werden wollten, dann solle das eben geschehen, sagte er – und brachte de Arbeitgeber damit zur Weißglut.

Gleichzeitig sah er die Chance gekommen, die „Tabakarbeitergenossenschaft“ (TAG) zu gründen. Die Arbeiter sollten ihr eigener Arbeitgeber werden. Tatsächlich schaffte er 1892, gegen gewaltige Widerstände in eigener Regie Zigarren zu produzieren und zu vertreiben – obwohl alle Fabrikanten gedroht hatten, mit niemanden mehr Geschäfte zu machen, die an die Genossen Tabak liefern würden. Die TAG wurde eine Erfolgsgeschichte, vor allem weil von Elm ein geschickter Kaufmann war. Dank der parallel entstehenden Konsumvereine, die ohne Gewinninteressen Lebensmittel und Dinge des täglichen Bedarfs günstig verkauften, konnte er den Absatz der Zigarren sichern. Obwohl die TAG weit überdurchschnittliche Löhne zahlte, florierte das Geschäft. „Ich glaube an keine gewaltsame Veränderung der Verhältnisse“, sagte von Elm „…notwendig ist es, die wirtschaftliche Macht allmählich zu erobern.“ Und so war er maßgeblich beteiligt, als die „Pro“ gegründet wurde, die Wohnungen für Arbeiter baute und zum Einzelhandelsriesen mit Hunderten Verkaufsstellen wurde. Die GEG, die Großeinkaufsgemeinschaft deutscher Consumvereine mit Sitz in Hamburg, konzentrierte schließlich Hunderte genossenschaftliche Produktionsbetriebe unter ihrem Dach – von Großbäckereien über Schlachtereien und Seifefabriken bis zur Tabakgenossenschaft, die unter dem Dach der GEG weiterexistierte. Deren Geschäftsführung war Zeit seines Lebens die einzige Arbeit, für die er bezahlt wurde. Und er musste mühsam überzeugt werden, dass sein Gehalt etwas höher war als das der Facharbeiter.

Streikführer

Von Elm hatte in den USA gelernt, dass Arbeitskämpfe nur dann erfolgversprechend sind, wenn sie gut vorbereitet – und die Streikkassen gefüllt sind. Wie sehr er damit Recht hatte, zeigte sich 1896/97, als er wider Willen zum Führer des großen Hafenarbeiterstreiks in Hamburg wurde. Es hatte schon länger gegärt unter den Arbeitern, die unter Hungerlöhnen und langen Arbeitszeiten litten. Als am 15. September 1896 der britische Gewerkschaftsführer Tom Mann in Hamburg bei einer Versammlung sprechen wollte, aber vorher festgesetzt und des Landes verwiesen wurde, brachte dies das Fass zum Überlaufen. Von Elm, der eigentlich als Übersetzer fungieren sollte, war nun Hauptredner und beeindruckte die Arbeiter, gerade weil er nicht aufrührerisch, sondern betont sachlich argumentierte. Man gründete eine Lohnkommission, stieß bei den Arbeitgebern auf taube Ohren und beschloss am 20. November den Streik.

Von Elm sah kaum Chancen: Nur ein Bruchteil war gewerkschaftlich organisiert, bald drohte der Winter den Hafenbetrieb ohnehin lahmzulegen, und es gab kein Geld, um die streikenden Arbeiter und die Familien zu ernähren. Dennoch wurde er zum Vorkämpfer, weil ein Scheitern langfristig fatale Wirkungen gehabt hätte. Bis zu 18.000 Arbeiter waren im Ausstand und von Elm und seine Mitstreiter schafften es, in Hamburg, dem Reich und im Ausland mehr als 1,6 Millionen Mark zu sammeln, um den Streik bis in den Februar 1897 hinein zu finanzieren. Schließlich musste er dennoch abgebrochen werden, wurde aber zum moralischen Sieg. Denn die Kompromisslosigkeit der Arbeitgeber brachte den Arbeitern viel Sympathie in der Bevölkerung ein. Von Elm konstatierte, dass hohe Gewerkschaftsbeiträge und gefüllte Streikkassen die Voraussetzung für Erfolg seien, ja, er glaubte, dass Forderungen sogar ohne Streik durchsetzbar seien, „wenn den Arbeitgebern das finanzielle Polster der Gewerkschaft deutlich wird“. Die Zukunft sollte ihm Recht geben.

Gründer der Volksfürsorge

Sein ganzes Leben verbrachte er damit, die Lage der Arbeiter zu verbessern. Ein Meilenstein dabei war die Gründung der „Volksfürsorge“, der ersten genossenschaftlichen Versicherung. Die Methoden der Branche waren bis dahin ein einziger Skandal – denn die Lebensversicherungen erloschen, sobald jemand mit den Beiträgen in Rückstand geriet. Das mühsam in kleinen Raten angesparte Kapital zogen die Gesellschaften einfach ein. Allein im Jahr 1909 verfielen so Versicherungen im Wert von 148 Millionen Mark – heute wäre das ein Milliardenbetrag. Entsprechend lukrativ war das Geschäft, was den erbitterten Widerstand gegen die Volksfürsorge erklärt. Als das „Kaiserliche Aufsichtsamt für Privatversicherungen“ 1912 die Gründung der neuen Versicherung genehmigte, forderte der Lobbyist Wolfgang von Kapp (der 1920 Initiator eines rechten Putschversuchs gegen die Weimarer Republik wurde) den Präsidenten der Behörde zum Duell! Was der geflissentlich ignorierte…

Wenn man das Lebenswerk von Elms betrachtet, fragt man sich unweigerlich, wie er das alles – schon rein zeitlich – geschafft hat. Denn er war auch 14 Jahre lang Reichstagsabgeordneter für die SPD (was damals unbezahlt war), Autor Hunderter Schriften und Mitbegründer der Freien Volksbühne. Vielleicht war seine Lebensenergie schlicht verbraucht, als er am 18. September 1916 nach einem Herzschlag an seinem Schreibtisch tot zusammenbrach.

Damals folgte eine riesige Menschenmenge dem Grabeszug vom Gewerkschaftshaus zum Ohlsdorfer Friedhof. Heute ist Adolph von Elm weitgehend vergessen. Weder die SPD, noch die Gewerkschaften, noch irgendeine Genossenschaft haben zum 100.Todestag eine Gedenkveranstaltung organisiert. Ihn selbst hätte das vielleicht am wenigsten gewundert.

image_printDrucken