Rechtsempfinden

Der stellv. Chefredakteur des Hamburger Abendblatts, Matthias Iken, fängt bei der Bewertung zweier Urteile zu sexuellen Übergriffen im ersten Absatz gut an, um danach in die Niederungen des Stammtisches abzurutschen. Lesen Sie seinen Leitartikel, meinen Leserbrief an ihn und die Reaktionen der Polizei und des Staatsanwalts.

Seit Aristoteles gilt der Grundsatz „In dubio pro reo“ – im Zweifel für den Angeklagten. Wo ein Restzweifel an der Schuld bleibt, muss ein Angeklagter freigesprochen werden. Das ist unumstritten. Und es gibt einen zweiten Grundsatz, den kein vernünftiger Mensch infrage stellen wird. Wenn Freigesprochene zuvor – wie in diesem Fall sogar 190 Tage – in Untersuchungshaft sitzen mussten, steht ihnen eine Entschädigung zu. So weit, so richtig, so gut.

Und doch hinterlässt der jüngste Freispruch für drei Angeklagte in Hamburg wegen der Übergriffe zu Silvester ein ungutes Gefühl. Denn er reiht sich ein in eine Kette von Urteilen, die sich vielen Bürgern kaum noch erschließen. Erst in der vorvergangenen Woche sorgte ein Richterspruch für vier Angeklagte, die ein Mädchen vergewaltigt und in Eiseskälte in einem Hinterhof abgelegt hatten, für Empörung. Der Vorsitzende Richter sagte zu Recht, die Jugendlichen hätten die 14-Jährige „weggeworfen wie Müll“. Aber weil das Jugendstrafrecht Erziehung vor Strafe setzt, kamen drei Täter mit Jugendstrafen auf Bewährung davon.

Die Wut vieler Hamburger darüber hat sich kaum abgekühlt, da heizt das neue Urteil die Debatte weiter an. In der Sache wird man der Richterin keinen Vorwurf machen können. Etwas seltsam aber muten ihre Einlassungen an. Sie hoffe, die Angeklagten hätten den Glauben an den Rechtsstaat nicht verloren, sagte die Richterin, wie der NDR berichtet.

Ob die drei Angeklagten aus Marokko, Tunesien und dem Iran den Glauben an den deutschen Rechtsstaat nun verloren haben, dürften viele für einen Randaspekt halten. Schlimmer ist, dass Zehntausende langsam das Vertrauen in den Rechtsstaat verlieren. Entscheidend ist die Frage, wie ein Rechtsstaat, der Unrecht nicht zu sanktionieren vermag, auf die Täter wirkt, auf die Opfer und die Staatsbürger insgesamt. Man muss sich nur in den sozialen Medien umschauen – hier arbeiten sich längst nicht mehr nur die Radikalen ab. Die Vertrauenserosion zieht sich bis in ein liberales Lager.

Schätzungsweise 400 Frauen wurden in der Silvesternacht in Hamburg sexuell belästigt. Keiner der Täter ist bislang verurteilt worden. Lediglich ein junger Mann, der am Neujahrsmorgen eine Hamburgerin verfolgte, zu Boden riss, sie halb entkleidete und auf sie onanierte, kam mit einer Bewährungsstrafe und 120 Stunden gemeinnütziger Arbeit davon. Hier gab es einen DNA-Beweis.

All diese Urteile sind im Einzelfall nachvollziehbar. Und doch können sie in ihrer Gesamtheit das Vertrauen zersetzen. Ohne Not untergräbt auch die Richterin des jüngsten Verfahrens den Glauben an den Rechtsstaat, indem sie die Ermittler bei der Polizei scharf kritisiert. Zweifelsohne wurden dort schwere Fehler begangen. Aber wie soll man Täter überführen, die aus einer großen Gruppe kollektiv Straftaten begehen? Wie soll sich ein Opfer in einer Ausnahmesituation Monate später an konkrete Gesichter erinnern?

Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) sprach nach den Übergriffen von Köln und Hamburg zu Recht von einem „Zivilisationsbruch“. Gut gebrüllt, Löwe. Ein zweiter Zivilisationsbruch wäre es, wenn alle Täter straffrei ausgingen. Genau davon muss man seit gestern ausgehen.

Darüber wird sich am Ende nur eine freuen: die AfD. Schlimmer noch: Die jüngsten Richtersprüche könnten sich am Ende als schwere Belastung für das Rechtsempfinden erweisen.

 

 

Sehr geehrter Herr Iken,

Ihr Leitartikel hat die Überschrift „Wahlhilfe für die AfD“. Diese Überschrift stimmt, denn Ihr Artikel ist genau die Wahlhilfe, die Sie hoffentlich nicht wollten. Sie vergleichen völlig unterschiedliche Tatbestände und geben darüber hinaus Behauptungen als Tatsachen aus. Das passt nicht zu Ihnen, der ich Sie bisher als seriösen und faktenbezogenen Redakteur kenne und schätze, wenngleich Sie zuweilen zu „steilen Thesen“ neigen, die aber als Überzeichnung durchaus angemessen sein können.

Ihr jetziger Leitartikel ist leider keine journalistisch gebotene Übertreibung, um den Wesensgehalt einer Sache zu verdeutlichen, sondern bewegt sich auf der Ebene von Stammtischparolen:

1.Wie kommen Sie dazu, die Aussagen in den sogenannten sozialen Medien als Beleg dafür zu nehmen, dass Unrecht nicht sanktioniert wird, was Sie auch auf die freigesprochenen drei Angeklagten beziehen.

2.Wie kommen Sie darauf, dass 400 Frauen in der Silvesternacht sexuell belästigt worden sind. Sind Behauptungen für Sie bereits Wahrheiten? Ist ein anzüglicher Blick schon eine sexuelle Belästigung?

3.Seit wann wird der Glaube an den Rechtsstaat untergraben, wenn eine Richterin im Zusammenhang mit schlampigen Ermittlungen die Polizei scharf kritisiert? Es ist ganz im Gegenteil notwendig, solche Ermittlungen, die auch politisch motiviert waren, nicht einfach hinzunehmen. Es ist schon ein merkwürdiges Rechtsverständnis, berechtigte Kritik derart zu qualifizieren.

Besonders ärgerlich ist es, zwei grundlegend unterschiedliche Fälle gleichzusetzen:

Die Vergewaltigung des Mädchens ist als Tat von Jugendlichen jenseits von Behauptungen zweifelsfrei. Über das Urteil kann man unterschiedlicher Meinung sein, insbesondere deswegen, weil das Urteil signalisieren kann, dass Vergewaltigung eine Lappalie ist., zumal auch bei minderjährigen Tätern nicht pauschal Erziehung vor Strafe erfolgen kann.  Dieses Urteil jedoch gleichzusetzen mit dem Freispruch der Angeklagten, denen sexuelle Belästigung unterstellt worden ist, ohne dass es dafür Beweise gegeben hat, ist insbesondere deswegen nicht hinzunehmen, weil Sie dieses Urteil als Unrecht bezeichnen.

Wenn ich freundlich bin, nenne ich so etwas Populismus. Leider haben Sie dem Rechtsempfinden einen Bärendienst erwiesen.

Mit freundlichen Grüßen

Rolf Aschenbeck

 

Lesen Sie, was Polizeipräsident und Generalstaatanwalt dazu sagen. Von Christoph Heinemann, dem HA auszugsweise entnommen:

Nach dem Freispruch für drei Angeklagte im Prozess zu den sexuellen Übergriffen in der Silvesternacht gerät die Vorsitzende Richterin am Landgericht massiv in die Kritik. Polizeipräsident Ralf Martin Meyer und Generalstaatsanwalt Jörg Fröhlich werfen der Richterin Anne Meier-Göring in einer gemeinsamen Mitteilung ein unangemessenes Verhalten bei der Urteilsverkündung vor.

„Der verbale Rundumschlag der Vorsitzenden Richterin ist beschämend“, so Meyer und Fröhlich. Die Vorsitzende Richterin hatte die Ermittlungsfehler in dem Fall scharf kritisiert: So wurde das Opfer suggestiv befragt und gab keine Täterbeschreibung ab, bevor ihm Bildaufnahmen gezeigt wurden.

Diese Schuldzuweisung ist nach Ansicht der Strafverfolger völlig unangebracht gewesen. „Polizei und Staatsanwaltschaft haben monatelang mit unermüdlichem Einsatz versucht, die Überfälle in der Silvesternacht aufzuklären. In diesem Verfahren wurden alle Haftbefehle vom Hanseatischen Oberlandesgericht bestätigt. Die Vorsitzende Richterin selbst hatte mit ihrer Kammer das Hauptverfahren eröffnet und damit eine Verurteilung der drei Angeklagten für überwiegend wahrscheinlich gehalten“, heißt es in der Mitteilung. Dass sich der Verdacht gegen die drei Männer in der Hauptverhandlung nicht erhärtete, sei neuen Erkenntnissen geschuldet gewesen und eher ein Beleg für einen funktionierenden Rechtsstaat.

Meyer und Fröhlich werfen der Richterin dagegen vor, den Rechtsstaat zu diskreditieren: „Er gerät nicht durch die aufopferungsvolle Arbeit der Hamburger Ermittlungsbehörden in Gefahr, sondern durch diejenigen, die ihnen leichtfertig manipulierte Beweismittel, finstere Machenschaften und politische Instrumentalisierung andichten.“

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