Bürgerentscheid

Hauptsache dagegen. Das ist die Überschrift eines Artikels des Hamburger Abendblatts von den Autoren Henrik Jacobs, Michelle Kossel und Alexander Schuller, der in gekürzter Fassung wiedergegeben wird. Er beschreibt ein Phänomen, dass bundesweit festzustellen ist und daher nicht auf Hamburg begrenzt ist, sondern exemplarisch die mögliche Pervertierung des Mehrheitswillens aufzeigt.

Allein in Hamburg sind zurzeit rund 90 Bürgerbegehren und -entscheide gegen zum Teil dringend erforderliche Bauprojekte in der Schwebe. Doch der Zorn der betroffenen Bürger richtet sich zunehmend auch gegen soziale Projekte in der Hansestadt. Hierin wird dann die Diskrepanz zwischen gesellschaftlicher Relevanz – dem Allgemeinwohl – und der jeweiligen privaten Interessenlage besonders deutlich: So protestierten vergangene Woche rund 100 Anwohner der Wohnstraße Am Heideknick in Sasel gegen ein geplantes Wohnheim des Diakonievereins Großstadt-Mission für acht bis zehn Kinder und Jugendliche aus schwierigen Familienverhältnissen.

Partikularinteressen

Sie befürchten, dass ihre ruhige Wohnstraße dadurch zu einem Treffpunkt krimineller Jugendlicher verkommen könnte. „Wir haben Angst, dass Vandalismus, Drogenmissbrauch oder Gewalt in der Straße zunehmen“, sagt Peter Jacobsen, direkter Nachbar und einer der Wortführer während einer Versammlung im Ortsamt Alstertal. Zur Not werde man das Projekt mit juristischen Mitteln zu Fall bringen. Jacobsen sorgt sich vor allem um einen Wertverlust der Grundstücke. Gegen dieses gewichtige Argument finden die Beschwichtigungsversuche von Andreas Weber, dem Pädagogischen Vorstand bei Großstadt-Mission, kaum Gehör: „Hier geht es doch nicht um kriminelle Jugendliche, sondern um Kinder mit biografischen Belastungen, denen wir ein neues Zuhause ermöglichen“, sagt Weber. „Ich bin sicher, dass die Ruhe der Straße erhalten bleibt und die Kinder sich an das Umfeld anpassen.“ Die zuständige Behörde – das Bauprüfungsamt – vertagte die Entscheidung über eine Betriebserlaubnis jetzt auf den 11. April 2012.

Der Anwohnerprotest gegen ein Hospiz für 14 sterbenskranke Menschen im Blättnerring im Harburger Stadtteil Langenbek entfachte in den vergangenen Wochen einen deutschlandweiten Sturm der Entrüstung. Erstaunlicherweise reagierte ausgerechnet die Hospizbeauftragte für den evangelisch-lutherischen Kirchenkreis Hamburg-Ost, Frauke Niejahr, gelassen: „Der Tod vorm eigenen Gartenzaun erschreckt natürlich. Man will sich den Tod vom Leib halten, obwohl man eigentlich weiß, dass der Tod immer ein Teil unseres normalen Lebens sein wird“, sagte die Pastorin. „Die Sorge um ein erhöhtes Verkehrsaufkommen aufgrund eines Hospizes ist natürlich eine Periphrase – eine Umschreibung für die Furcht, nun könne sich Bestatterwagen an Bestatterwagen in einer ruhigen Wohnstraße reihen.“ Dabei werde an vielen anderen Orten in der Gesellschaft eine weitaus größere Anzahl von Verstorbenen transportiert, ohne dass es jemandem auffallen würde. „Rund 40 Prozent aller Totenscheine werden in Kliniken ausgestellt. Ansonsten wird der Tod – ‚die letzte große Unverschämtheit des Lebens‘ – am liebsten hinter private Mauern verbannt“, stellt Frauke Niejahr fest.

Allgemeinwohl unbekannt

Dieser Protest gegen das Hospiz im Süden Hamburgs ist übrigens inzwischen eingeschlafen, die Entrüstung gegen diese Wutbürger ebenfalls. Denn die beiden Wortführer haben mittlerweile beschlossen, ihre Grundstücke zu verkaufen und wegzuziehen. Doch gerade dieses Beispiel scheint in besonderer Weise dafür geeignet zu sein, die Grundproblematik der modernen Basisdemokratie zu beleuchten: Ganz gleich, ob gegen den (angeblich) unerträglichen Lärm angegangen wird, den Kindergärten, Kindertagesstätten und Sportplätze verursachen; oder ob sich Wutbürger gegen ein Bordell oder eine Drogentherapieeinrichtung in der Nachbarschaft starkmachen, kommt die Frage auf, ob der Bürgerprotest berechtigt ist – und wann er vielleicht nur ein vorgeschobener Grund für die Durchsetzung eigener Motive ist.

Nach einer Untersuchung des Göttinger Instituts für Demokratieforschung anhand der Stuttgart-21-Protestbewegung ist der typische Wutbürger im Durchschnitt älter als 46 Jahre, besitzt einen höheren Bildungsgrad, ist wirtschaftlich häufig gut gestellt (90 Prozent der Wortführer besitzen Haus und Grund), traut der Demokratie hierzulande nur sehr bedingt, hält sich selbst aber für einen guten Demokraten. Die meisten Protestmotive, so die bisherigen Ergebnisse der Göttinger Politikforscher, würden hauptsächlich von ökonomischen Aspekten bestimmt. Der Protest diente in Wahrheit also lediglich der Bewahrung materieller Werte, wenn Wutbürger als direkt Betroffene Einfluss auf Gesetzgebungsverfahren sowie politische und Behördenentscheidungen nehmen.

Ihre These wollen die Göttinger Demokratieforscher jetzt in einer bundesweiten, repräsentativen Untersuchung verifizieren.

Ein Fazit lässt sich bereits vorher ziehen: Basisdemokratie fordert häufig das St.-Florians-Prinzip heraus: Im Falle des umstrittenen Harburger Sterbehospizes heißt das: Sterben müssen wir zwar alle irgendwann einmal, aber wenn es schon sein muss, dann bitte nicht vor meiner Haustür.

 Kommentar

Bürgerproteste bzw. Bürgerinitiativen mit dem Ziel eines Bürgerentscheids sind legitim, zumal dann. wenn Projekte verhindert werden sollen, die einer Minderheit nutzen, die Mehrheit aber benachteiligen. Genau das ist aber das Problem vieler Bürgerinitiativen, denen es nicht um das Allgemeinwohl geht, sondern um ihren Eigennutz, dem Eigennutz einer Minderheit zu Lasten der Mehrheit. Bürgerentscheide, die auf Landesebene Volksentscheide sind, können daher nur akzeptiert werden, wenn das Quorum einen solchen Eigennutz ausschließt.

Wo bleibt eigentlich die Bürgerinitiative bzw. das Volksbegehren gegen die Absicht eines Ölkonzerns, im Wattenmeer nach Öl bohren zu wollen? Das Interesse dieses Konzerns ist nicht etwa, die Versorgung der Bevölkerung zu verbessern, sondern wegen des gestiegenen und weiter steigenden Ölpreises Kasse zu machen, obwohl die nachteiligen ökologischen Folgen einer Ölbohrung im geschützten Wattenmeer absehbar sind und der Mehrheit der Bevölkerung  schaden.

Rolf Aschenbeck

 

Irrweg Volksentscheid, von Stephan Steinlein, dem HA vom 25.08 2016 entnommen

An Spitzenplätzen hat die Hansestadt eine ganze Menge zu bieten: Im Hockey oder Beachvolleyball, das haben Hamburger Sportler gerade erst bei Olympia gezeigt, sind wir top; bei Untersuchungen zur Lebensqualität in Großstädten landen wir stets auf einem vorderen Platz, das wohl imposanteste Konzerthaus eröffnet im Winter, und die HafenCity zählt zu den bundesweit herausragenden städtebaulichen Projekten. Spitzenplätze, auf die Hamburg stolz sein darf. Wenig Freude macht ein anderer Spitzenplatz, und einen Grund, darauf stolz zu sein, gibt’s auch nicht: Hamburg ist unter den Bundesländern weit vorn in Sachen direkte Demokratie. Es gibt Volksinitiativen, Volksbegehren, Volksentscheide und ein personalisiertes Wahlrecht, das per Volksentscheid durchgesetzt wurde.

Was es aber nicht gibt, ist eine Stärkung der Demokratie durch all diese plebiszitären Elemente.

Jetzt, endlich, hat der Senat das Hamburgische Verfassungsgericht angerufen, um die schlimmsten Auswüchse, die mittels einer weiteren Volksinitiative auf den Weg gebracht werden sollen, zu verhindern. Jetzt, endlich, wehrt sich die legitimierte Politik gegen die selbst ernannten Politikwächter aus einem Verein, der sich „Mehr Demokratie“ nennt – als hätte Hamburg dieses Mehr nötig. Bürger- oder Volksentscheide sind in erster Linie Misstrauenserklärungen gegenüber Abgeordneten und verschärfen die Legitimationskrise der parlamentarischen Demokratie weiter. Wozu dienen Parlamente, wozu engagieren sich vom Volk gewählte Politiker, wenn man ihnen nicht zutraut, zum Wohle des Volkes zu entscheiden? Jede direkte Abstimmung kommt einer weiteren Selbstentmachtung der Politik gleich, sie schwächt die Parteien und schadet der Akzeptanz von Bürgerschaft oder Bezirksversammlungen. Während parlamentarische Gremien einen Interessenausgleich garantieren, vertreten Initiativen gerade auf Bezirksebene vor allem Partikularbedürfnisse.

Die Idee, mit Volksbefragungen die Teilhabe zu erhöhen, kehrt sich ins Gegenteil: Parteien gelingt es zunehmend schlechter, Menschen für ihre Arbeit zu gewinnen, die Wahlbeteiligung sinkt dramatisch, das Interesse an Politik schwindet weiter. Volksabstimmungen sind aber kein probates Mittel gegen Politikverdrossenheit. Sie tragen auch nicht dazu bei, in Stadtteilen mit schwieriger Sozialstruktur die Menschen zumindest in Sachfragen verstärkt mitzunehmen, sondern sie sind in erster Linie ein Verhinderungs­instrument. Das Signal lautet oft: „Denen da oben zeigen wir es.“ Wie zuletzt bei der Abstimmung über Olympia. 85 Prozent der Parlamentarier waren für Spiele in Hamburg, der Volksentscheid dagegen war somit auch ein Votum gegen die Politik im Rathaus.

Vermutlich lässt sich die sogenannte direkte Demokratie nicht mehr komplett zurückdrehen. Es fehlt der Politik wohl der Mut, sich öffentlich mit dem Verein „Mehr Demokratie“ anzulegen, denn dann drohten neue Volksentscheide zu diesem Thema.

Die richtige Antwort auf schwindendes Interesse an Politik ist nicht, sie in andere Hände zu geben, sondern Politik spannender zu machen. Parteien müssen sich noch stärker öffnen. Auch wer sich nur für ein örtlich und zeitlich begrenztes Thema interessiert, sollte in den Parteien willkommen sein. Die besten Kandidaten gehören auf die Wahllisten, auch wenn sie den Parteien gar nicht angehören. Und die Debatten im Parlament müssen spannender und bürgernäher werden. An genau diesen strukturellen Veränderungen arbeiten Parteien, Abgeordnete und Bürgerschaft. Wir sollten es ihnen überlassen, nicht einem Verein.

Anmerkungen

Leider hat der Autor nicht erwähnt, dass der Hamburger Senat, also die Regierung, mit dem Verein „Meht Demokratie“ einen Vertrag  vereinbart hat, der die Selbstentmachtung der regierenden Parteien noch beschleunigt.  Als Mitglied der SPD muss ich einen solchen Vertrag kopfschüttelnd zur Kenntnis nehmen und frage mich, ob ich überhaupt noch an der Willensbildung meiner Partei teilhaben kann, wenn diese auf solche Vereine verlagert wird mit Protagonisten, die nicht einmal der SPD angehören. Bin ich als Mitglied der SPD nicht mehr wert, gehört zu werden; und zwar insbesondere dann, bevor solche Verträge geschlossen werden. Es wäre zumindest zu erwarten gewesen, vorher  eine innerparteiliche Diskussion stattfinden zu lassen, um sich anschließend mit einer Befragung aller Mitglieder  die Rückendeckung für die gewollten Entscheidungen zu holen.

Im übrigen kann dem Autor weitgehend zugestimmt werden.

Rolf Aschenbeck

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